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„Zu früh, zu spät“

Eine Unterhaltung zwischen drei philosophierenden Spaziergängern, belauscht von Conny Habbel und Robert Pfaller
(Katalogbeitrag)

I

Meleager: Als ich Ihnen von diesem verwunschen anmutenden Ort erzählte, Sulamith, sagten Sie leise: 'Zu früh, zu spät'.

Sulamith: Ich musste an eine Arbeit des Künstlers Ben Vautier denken. Ich glaube, das Bild bestand aus einem Brett mit einem Vorhang. Außen auf dem Vorhang stand zu lesen: 'Zu früh'. Wenn man dagegen den Vorhang öffnete, so stand auf dem Brett dahinter 'Zu spät'.

N. N.: Sie meinen also, dass man an diesem Ort niemals das Richtige tun kann? Verändert man ihn, dann zerstört man ihn. Belässt man ihn dagegen, wie er ist, so interessiert er niemanden - mit Ausnahme einiger melancholischer Außenseiter vielleicht.

Meleager: Das ist so, wie wenn man sich ein paar Knäuel Wolle kauft, von der schönsten Sorte, und ewig davor zurückschreckt, sich zu entscheiden, ob sie zu einem Pulli, zu Handschuhen oder zu Socken verarbeitet werden soll.


II

Meleager: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/ Den Vorhang zu und alle Fragen offen"! Sind wir also in einer völlig unentscheidbaren Situation? Einer Aporie?

Sulamith: Aber Nein! Eine minimale Veränderung ist hier notwendig, um den Charme des Ortes zu erhalten und seine Eigenart sichtbar zu machen. Dann weiß man nachher, dass es vorher großartig war. Vorher dagegen wusste man gar nichts.

N. N.: Ist das nicht Nietzsches Lehre vom "Perspektivismus"? Wenn es auch keine wahre Perspektive gibt, so belehrt uns doch der Wechsel zwischen den Perspektiven: Dank der neuen Perspektive können wir erkennen, dass das vermeintlich Evidente viel eher der früheren Perspektive geschuldet war als deren Objekt. Wir gewinnen keine Wahrheit, aber wenigstens ein Bewusstsein ihrer Relativität?

Meleager: Gleicht das nicht den aktuellen Verfahren der sogenannten Dekonstruktion? Wo ein enormer interpretativer Aufwand betrieben wird, nur damit am Ende eine totale Unentscheidbarkeit herauskommt, in der alle Katzen grau sind?


III

Sulamith: Ich muss Ihnen widersprechen - wenigstens teilweise. Was die Dekonstruktivisten betrifft, haben Sie wohl recht: Entscheidungen sind nicht ihre Stärke. Mir scheint, sie zweifeln nur, um niemals Position beziehen zu müssen und in ihrer vermeintlichen intellektuellen Distanz verharren zu können. Aber Perspektivismus ist etwas ganz anderes. Denken Sie zum Beispiel an Wittgenstein. Wenn er eines seiner amüsanten, absurden Beispiele erfindet, dann reißt er uns damit aus einer bisherigen Gewissheit heraus. Ohne dass wir deshalb schon in einer neuen, ebenso beschwerlichen landen würden. Er verfremdet die Sache. Mit Gewinn.

N. N.: Wenn ich eine Dekonstruktion lese, dann wird mir immer ganz fad. Bei Wittgenstein hingegen bekomme ich Lust, weil sich mir eine neue Sichtweise eröffnet.

Meleager: Sie meinen, Zweifeln ist etwas anderes als Verfremden? Das eine lähmt, das andere stimuliert?

N. N.: Zweifeln ist jedenfalls dann lähmend, wenn es betrieben wird, um die Wahrheit in unendliche Ferne zu rücken. Und uns in die Selbstzufriedenheit - uns der Wahrheit niemals stellen zu müssen.

Sulamith: Ich finde daran übrigens nur Sicherheit, die wenig Zufriedenstellendes hat. Position zu beziehen, ist meiner Ansicht nach etwas Lustvolles. Die Dekonstruktivisten hingegen sind für mich Leute, die alles tun, um sich diese Lust zu versagen. Sie sind Asketen.


IV

N. N.: Denken Sie an Wittgensteins Kritik an dem Anthropologen Frazer! Wo Frazer meint, die sogenannten Wilden würden an Magie glauben und deshalb Magie betreiben; wir Zivilisierte hingegen glaubten nicht daran und betrieben darum keine Magie.

Meleager: Und Wittgenstein antwortet mit der Beobachtung, dass er selbst sich oft bei kleinen symbolischen Handlungen ertappt. So beißt er sich unwillkürlich auf die Lippen, wenn er sich von einem zu geschwätzigen Gesprächspartner belästigt fühlt - so, als ob er ihn dadurch zum Verstummen bringen könnte. Und er fragt: Muss ich deshalb glauben, dass das wirkt? Nur weil ich es mache?

Sulamith: Durch sein Beispiel zeigt Wittgenstein, dass hinter dem scheinbar unverständlichen Fremden sich etwas durchaus Vertrautes erkennen lässt - etwas allzu Vertrautes, vielleicht. Verfremdung bedeutet hier, dass der zunächst scheinbar unüberwindliche Gegensatz von Fremdem und Eigenem relativiert wird: So fremd wie die anderen sind wir selbst uns auch - mindestens ebenso fremd.


V

Meleager: Bei diesem Wechsel von einer vertrauten zu einer ungewohnten, neuen, befreienden Perspektive fällt mir auf, daß die gewohnte Perspektive zugleich etwas Bequemes wie auch etwas Unerträgliches an sich hat. In ihrer Evidenz fühlt man sich gefangen - wie in einem "Fliegenglas".

N. N.: Man leidet auch am eigenen Unverständnis gegenüber dem Fremden - was sich allerdings oft als Aggression gegenüber dem Gegenstand äußert (z. B. "Wir müssen die Wilden zivilisieren", "Wir müssen die Fundamentalisten bekämpfen" etc.).

Meleager: Aus dieser Misere wird man durch Wittgensteins verfremdende Beispiele befreit. Anders als am Ende einer Dekonstruktion gibt es bei ihm zum Schluss kein Gleichgewicht der Perspektiven. Die Voraussetzungen der ersten, gewohnten Perspektive werden definitiv verlassen. So verblendet wie zuvor kann man dann gar nicht mehr denken.

Sulamith: Das erinnert mich an die gegenwärtige Diskussion um das Kopftuchverbot. Wir neigen dazu, die Moslems für frauenfeindlich und fundamentalistisch zu halten, und ihre Frauen, die das Tuch wollen, für dumm und unemanzipiert. Aber - um analog zu Wittgenstein zu verfahren: Stellen Sie sich nur vor, in Europa, wo es in manchen Bädern gestattet ist, oben ohne zu baden, würde ein generelles Verbot für Bikini-Oberteile erlassen. Würden da nicht auch viele Frauen die Bäder meiden? Und wären das dann ausschließlich die Unemanzipierten, Konservativen, Dummen oder Religiösen?



(Habbel, Conny / Pfaller, Robert: "Zu früh, zu spät". Eine Unterhaltung zwischen drei philosophierenden Spaziergängern, in: Dialog Loci. Kunst an einem verlorenen Ort. Kunstbuch zur internationalen Ausstellung Dialog Loci auf dem Gelände der Festung Kostrzyn / Küstrin, hg. v. Urban Art Berlin (A. Peschken und M. Pisarsky), Hilden: Becker Joest Volk Verlag, 2004, S. 58-60.)

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